Hallescher Pietismus und „Orient“. Dynamiken globaler religiöser Interaktion im 18. Jahrhundert

Organisatoren
Daniel Haas, Universität Hamburg; Stefano Saracino, Friedrich-Schiller-Universität Jena; Stanislau Paulau, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Holger Zaunstöck, Franckesche Stiftungen zu Halle; Friedemann Stengel, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (Franckesche Stiftungen zu Halle)
Ausrichter
Franckesche Stiftungen zu Halle
Förderer
Franckesche Stiftungen zu Halle; Johanna Quandt Young Academy; Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Universität München; Universität Hamburg
PLZ
06110
Ort
Halle (Saale)
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
27.09.2023 - 29.09.2023
Von
Nora Blume, Interdisziplinäres Zentrum für Pietismusforschung, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Sebastian Rimestad, Institut für Religionswissenschaft, Universität Leipzig

Das Organisatorenteam bestehend aus Daniel Haas, Stanislau Paulau, Stefano Saracino, Friedemann Stengel und Holger Zaunstöck hatte eine interdisziplinäre Runde versammelt, um über die Imagination des „Orients“ unter halleschen Pietisten zu diskutieren sowie die Verflechtungen und Kontaktzonen in diesen „Orient“ zu untersuchen. Somit kamen bislang nur skizzenhaft in der Forschung wahrgenommene Themen und Fragestellungen gebündelt zur Sprache. Halle erwies sich in fast allen Vorträgen als entscheidender Knotenpunkt, denn die Franckeschen Stiftungen können als zentraler Ort der Wissensproduktion gelten – sei es, dass über in Halle vorhandenes Quellenmaterial oder zeitweilig in Halle weilende Akteure referiert wurde oder Halle als theologisch-pietistisches Zentrum aufschien. Zum Vorschein kam ein facettenreicher „Orient“, der auch – aber nicht nur – unter Zuhilfenahme der Analysekategorien von Edward Said (Orientalismus 1978) beschrieben werden kann und mitunter auf die Entwicklung orientalistischer Tendenzen im 19. Jahrhundert hinwies. Mit der Faszination für „das Fremde“, das sogenannte „Orientalische“, ging immer auch ein Prozess des Otherings einher, der genauso viel die eigene pietistische Identität festigte, wie er das „Fremde an sich“ stilisierte.

Die elf Vorträge des Workshops sind in drei Themenblöcke zu untergliedern.

Fünf Vorträge widmeten sich halleschen Orientvorstellungen, die durch in Halle gedruckten oder dem halleschen Bestand zugehörige Schriften transportiert oder aber durch Kunstgegenstände der halleschen
Sammlungen vermittelt wurden.

Der Vortrag von STANISLAU PAULAU (Halle) handelte von dem 1724 veröffentlichten Lebenslauf des Äthiopienreisenden Peter Heyling (circa 1607 – circa 1652), der darin als erster pietistischer Missionar unter den Abessiniern popularisiert wurde. Dabei hatte sich der studierte Jurist selbst nie als Missionar verstanden. Der Autor des Buches, Johann Heinrich Michaelis (1668–1738) inszeniert um Heyling dennoch den Ursprung einer pietistischen Missionstradition, um der Wittenberger Missionsopposition, von welcher ein theologisches Gutachten aus den 1650er-Jahren zeugt, etwas entgegenzusetzen. Gustav Warneck (1834–1910) nahm 1896 ebenfalls eine Typisierung Heylings vor, wobei das Bild des äthiopischen Christentums – anders als in dem 1724 erschienenen Lebenslauf – nun als „schlechtestes“ unter den „zerfallenen orientalischen Kirchen“ beschrieben wurde – ein Motiv, dessen sich Adolf von Harnack (1851–1930) 1900 bediente. Der „Orient“, der häufig als Negativfolie inszeniert wird, so zeigte Paulau eindrücklich, wird je nach Kontext verschoben.

PAULIEN WAGENER (Halle) stellte in einem Werkstattbericht ihre Recherchen zu den Armenica in Halle vor, mit dem sie dazu einlud, sich in weiteren Forschungsarbeiten mit der Geschichte der Armenien-Studien in Halle auseinanderzusetzen. Der heutige hallesche Bestand umfasst 27 Archivalien unterschiedlichen Umfangs und verschiedener Provenienz, die auf einen Zeitraum zwischen 1634–1740 datiert werden. Einige weitere in den Quellen erwähnte armenische Schriften sind heute nicht mehr im Archiv vorhanden. Besonders häufig finden sich Bücher, die aus dem Amsterdamer Druckhaus der armenischen Familie Vanandetsi stammen und verdeutlichen, dass sie in besonderem Maße die Orientkonstruktionen des zeitlichen Kontexts prägten.

MARTIN ILLERT (Halle) referierte über die besondere Rolle, die der Pietist Balthasar Köpke (1646–1711) dem frühchristlichen Autor Makarios der Ägypter (300–391 n. Chr.) zuschrieb. Da jener nach dem Ende der „apostolischen“ aber noch vor dem Beginn der „papistischen“ Zeit gewirkt habe, könne er als „unbefleckte“ Projektionsfläche für pietistische Frömmigkeit fungieren, so argumentierte Köpke, wie Illert anhand der 1700 in Halle erschienenen Wahren Theologia Mystica zeigte. Köpke, der Makarios Theologie als „wahre Mystik“ im Gegensatz zur „falschen Mystik“ der griechischen Philosophen hervorhob und damit den „Orient“ zur Scharnierstelle echter Frömmigkeit werden ließ, griff dabei auf bereits bestehende Deutungen zurück. Schon Gottfried Arnold (1688–1714) hatte Makarios in seiner Unparteiischen Kirchen und Ketzerhistorie (1699/1700) als frommes Vorbild inszeniert. Derartige Dekontextualisierungen von Makarios finden sich auch im fortgeschrittenen 18. Jahrhundert etwa bei Herrmann Samuel Reimarus (1694–1786) und Johann Salomo Semler (1725–1791).

SILKE FÖRSCHLER (Kassel/Jena), die mit besonderer Sorgfalt die Problematik des Orientbegriffs nach Edward Said herausstellte, thematisierte die bildliche Darstellung des salomonischen Tempels in der von Christoph Semler verfassten Schrift Templo Salomonis von 1718. Ein entsprechendes dreidimensionales Modell des ersten Tempels wurde zeitgenössisch für die halleschen Sammlungen von Christoph Semler angefertigt. Semler hatte das Modell nach jüdischem Vorbild erstellt, nicht nur um mit ortsansässigen Juden ins Gespräch zu kommen, sondern auch um diese zu missionieren. Förschler erkannte darin eindeutig Motive des Said‘schen Analyserahmens und machte deutlich, dass mithilfe der Tempeldarstellung „Othering“-Prozesse nachgewiesen werden können. Das Modell hätte Juden zwar nicht explizit abzuwerten gesucht, dennoch stand die Stärkung der eigenen pietistischen Identität im Vordergrund.

Weitere Vorträge wandten sich in einem zweiten Themenbereich Akteuren und Gruppen zu, die dem halleschen Pietismus zugeordnet werden können oder mit diesem in enger Verbindung standen.

Inwiefern Schüler und Lehrer der halleschen Anstalten Teil des exponierten Wissensnetzwerks der Arabistik waren, zeigte der Vortrag von SIMON MILLS (Newcastle). Anhand ausgewählter Exemplare arabischer Bücher des halleschen Bestandes wurde der Arabist und Orientalist Christian Benedikt Michaelis (1680–1764) vorgestellt. Michaelis Bücher bezeugten ein besonderes Weitergabe- und Handelsnetzwerk arabischer Quellen und deuten auf die geringe Anzahl von Akteuren hin, die im frühen 18. Jahrhunderts das Wissen über „den Orient“ erzeugten. So wurde Michaelis maßgeblich von seinem schon erwähnten Onkel Johann Heinrich Michaelis, der Mitbegründer des Collegium Theologicum Orientale war, geprägt. Er studierte Arabisch, den Koran und Korankommentare, vor allem aber anhand der zeitgenössischen Standardwerke des syrischen Christen Salomon Negri (1665–1729), der unter anderem in Halle unterrichtet hatte. Weitere in der halleschen Bibliothek vorhandene arabische Bücher entstammen offensichtlich besonderen Handelsbeziehungen zur Habsburger Monarchie, über welche Bücher als sogenannte „Türkenbeute“ aus den Osmanenkriegen nach Halle gelangten. Die Bücher bezeugen das Mächtegefälle, in dem die Orientalistik zu entstehen begann. So war auch Michaelis Interesse ein dezidiert missionarisches, insofern er unter anderem Angleichung der Koranauslegung an christliche Zentraldogmen wie der Offenbarung vornahm.

THEA SUMALVICO (Halle) stellte mit ihrem Vortrag über den Orientalisten und Theologen Johann David Michaelis (1717–1791), Sohn des genannten Christian Benedikt, eine schillernde Persönlichkeit der Orientforschung vor, die als Autorität im Gebiet der Hebraistik und der jüdischen Studien galt. Der Mitte des 18. Jahrhunderts nach Göttingen berufene Johann David, aus der angesehenen halleschen Michaelis-Familie entstammend, veröffentlichte ab 1770 seine mehrbändige Hauptschrift Mosaisches Recht, in der er die Rückständigkeit des jüdischen Rechtes behauptete. Deutlich lässt sich aufzeigen, wie das Judentum als Negativfolie für die eigene, christliche und „vernünftige“ Religion von Michaelis konstruiert wird. Die Juden seien ein „fremdes Volk“, das nicht einmal durch Konversion verbessert werden könne, sondern in Kolonien abgesondert werden müsse. Diese Argumentation führte Michaelis in eine Kontroverse mit Christian Konrad Wilhelm von Dohm (1751–1820), der 1781 die rechtliche Gleichstellung der Juden gefordert hatte. Der hier zum Vorschein kommende Antisemitismus beunruhigt mit seiner Vorwegnahme späterer, nachhaltig wirkender Topoi.

DANIEL HAAS (Hamburg) präsentierte das Bild der „orientalischen“ Christenheit in dem womöglich „bekanntesten unbekannten“ Geschichtswerk des frühen 18. Jahrhunderts: der Neuesten Kirchengeschichte von Johann Heinrich Callenberg (1694–1760). Das elfbändige monumentale Werk behandelt die Zeit zwischen 1689 und 1721, wurde aber nie gedruckt und liegt nur handschriftlich vor. Haas zeichnete nach, wie im ganzen Werk knappe, meist negative Hinweise auf die „orientalischen“ Kirchen zu finden sind. Die geografische Ausweitung des „Orients“ bis nach Moskau in den Schilderungen bezeugt das Konstruktionspotential des Begriffs. Denn das hier angesammelte Wissen entstammte insbesondere dem Briefwechsel zwischen August Hermann Francke (1663–1727) und dem Russlandreisenden und Diplomaten Heinrich Wilhelm Ludolf (1655–1712), der den ostkirchlichen Klerus und den römisch-katholischen Einfluss kritisierte und nur dann positiv von den „orientalischen“ Kirchen berichtete, wenn persönliche Reisebegegnungen missionarische Erfolge versprachen, die aber – so die Bilanz – weitestgehend ausblieben.

Der wirtschaftsgeschichtliche Beitrag von MAGNUS RESSEL (Bremen) über die deutsche Minderheit in Venedig, Livorno und Smyrna verdeutlichte fachkundig die wirtschaftliche Ausschlagkraft der Francke’schen Netzwerke und zeigte zudem die Grenzen des halleschen Einflussgebietes auf. Ressel zeigte detailreich, wie die Deutsche Nation in Venedig und die halleschen Anstalten im Kontakt standen. Während überaus profitable Spenden der venezianischen Minderheit die halleschen Anstalten erreichten, wurden Hallenser Nachwuchstheologen in die dortigen Gemeinden als Prediger gesandt. Zudem wurde Venedig zum Ausgangspunkt hallescher Orientreisender. So besuchten der Diplomat Heinrich Wilhelm Ludolf, der Gelehrte Salomon Negri und der spätere Direktor des Institutum Judaicum et Mohammedicum in Halle Stephan Schultz (1714–1776) und andere die Enklave. Das Frömmigkeitsprofil der dortigen Bewohner wurde aber nicht nur durch die hallischen Einflüsse geschliffen. Ein weiterer wichtiger Kontakt bestand zu Samuel Urlsperger (1685–1772) und Johann Friedrich LeBret (1732–1806), die Prediger für die Stellen in Livorno und Smyrna bestimmten.

Eine dritte Gruppe von Vorträgen befasste sich mit der Sicht externer Akteure auf Halle und seinem „Orient“.

So spielte Heinrich Wilhelm Ludolf auch bei STEFANO SARACINO (Jena/München) eine tragende Rolle. Er stellte dessen Entwicklung zum Werdegang seines Onkels Hiob Ludolf (1624–1704) ins Verhältnis. Hiob hatte sein Augenmerk noch mit Vorliebe auf die Äthiopier als die wahren Vertreter unbefleckter Christenheit gesetzt, während sein Neffe, der die institutionelle Kirchlichkeit ablehnte und eine ecclesia universalis anstrebte, sich den „Neuen Griechen“ zuwandte. Diese Kehrtwende hat sowohl in Oxford als auch in Halle das Projekt eines Collegium Orientale Theologicum hervorgebracht und verdeutlicht, inwiefern dasjenige, was als rechter und wahrer „Orient“ bezeichnet wurde, von demjenigen abhängt, der spricht.

Einen völlig neuen Forschungsbeitrag leistete DRAGANA GRBIĆ (Köln), die sich mit den bisher unerforschten Nachlässen hallescher Provenienz in serbischen Klöstern auseinandergesetzt hat. Im Zentrum ihrer Analyse standen serbische Akteure, die nach Halle zum Studium geschickt worden waren, um nach ihrer Rückkehr nach Österreich-Ungarn eine kirchliche Karriere anzutreten. Das hallesche Modell überzeugte die mit religiösen Spannungen kämpfenden Serbisch-Orthodoxen vor allem durch den Reichtum an antikatholischer Polemik, die ihnen dabei half, auf Abstand zur kirchlichen und weltlichen Habsburgermacht zu bleiben. Grbić fokussierte sich auf Petar Gavrilov Miloradović (circa 1744–1791), der 1765–1769 in Halle Medizin studierte. Wieder in Serbien war er ein wichtiger Akteur im Kloster Grabovac, wo eine Schule nach halleschem Muster errichtet worden war.

Der Vortrag von NIKOLAS PISSIS (Korfu) stellte die „abenteuerliche“ Karriere des Serapheim aus Mytilene vor. Dieser biografisch schwer zu fassende griechische Mönch wurde zunächst als Student des Greek College in Oxford bekannt, wo er an der Publikation des neugriechischen Neuen Testaments beteiligt war. Sein Vorwort zu dieser Publikation war so kritisch gegenüber der griechischen Kirche, dass er nicht nur exkommuniziert wurde, sondern auch eine polemische Streitschrift von Alexander Helladius (1686–?) provozierte – eine Streitschrift, die, so Pissis, überbewertet wird. Serapheim, der sich einige Zeit in Halle aufgehalten hatte, lebte fortan als Reisender, der sich durch Almosensammeln finanzierte und als Diplomat und Dolmetscher wirkte. 1732 wurde er in Moskau als Spion angeklagt und nach Sibirien verbannt. Pissis zeigte, wie Serapheim es in allen Lebenslagen vermochte, sich seinem Gegenüber anzupassen, wodurch er das Stereotyp des „orientalischen Almosensammlers“ verkörperte – und so auch das Orientbild der Hallenser prägte.

Insgesamt zeigten die Beiträge des Workshops eindrücklich, wie die Erforschung des halleschen Orientbildes bei weitem nicht ausgeschöpft ist. Davon zeugten auch die lebhaften Diskussionen nach jedem Vortrag, die vielfältige Neuperspektivierung, zusätzliche Aspekte und überraschende Überschneidungen zu Tage brachten. In der Abschlussdiskussion wurde noch einmal deutlich, dass man weder von „dem Pietismus“ noch von einem vermeintlich einheitlichen „Orient“ sprechen kann. Mit Vorfreude können wir auf den Tagungsband warten, der ein wichtiger Beitrag zur Begleichung eines erheblichen Forschungsdesiderats zu werden verspricht.

Konferenzübersicht:

Stanislau Paulau (Halle): Peter Heyling und die „zerfallenden Kirchen des Orients“: Zur Genealogie protestantischer Mission von Johann Heinrich Michaelis bis Gustav Warneck

Daniel Haas (Hamburg): Zum Verhältnis von Halleschem Pietismus und Christlichem Orient in Johann Heinrich Callenbergs „Neuester Kirchengeschichte“

Stefan Saracino (Jena/München): Heinrich Wilhelm Ludolf und die Hoffnung der Pietisten in die „griechische Nation“

Nikolas Pissis (Korfu): Serapheim aus Mytilene zwischen London, Halle und Moskau

Martin Illert (Halle): Makarios „der Ägypter“ in Balthasar Köpkes „Wahrer Theologia Mystica“

Dragan Grbić (Köln): Beziehungen zwischen der Metropolie von Karlowitz und Halle im 18. Jahrhundert

Paulien Wagener (Halle): Armenische Studien in Halle im Spiegel der historischen Buchbestände der Franckeschen Stiftungen

Thea Sumalvico (Halle): „Orientalisches“ Judentum als das Andere des „vernünftigen“ Christentums? Konstruktionen bei Johann David Michaelis in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts

Simon Mills (Newcastle): Christian Benedict Michaelis (1680–1764) and Arabic Studies in Eighteenth-Century Halle

Magnus Ressel (Bremen): Das pietistische Netz in Venedig und die Verbindungen der beiden Franckes in das östliche Mittelmeer

Silke Förschler (Kassel/Jena): Gesammelte Topologien: Der Tempel Salomon